Totalschaden / Kommentar von Jens Kleindienst zu Thüringen

Mainz (ots) – Es war ein Dammbruch, für die Nachwelt festgehalten in einem Foto mit Schauerpotenzial: Björn Höcke gratuliert im Erfurter Landtag dem neuen Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich zu seiner Wahl – eine Wahl, die erst das Votum seiner AfD für den FDP-Kandidaten möglich gemacht hat. Die Kür eines bürgerlich-liberalen Kandidaten zum Landesvater mit den Stimmen einer Partei, deren Vorsitzenden man einen Faschisten nennen darf, ist genau das, was CDU und Liberale immer ausgeschlossen haben. Dieses Tabu ist gefallen. Thomas Kemmerich hat am Tag danach zwar seinen Rücktritt angekündigt. Erst massiver Druck aus der Berliner Parteizentrale brachte ihn wohl dazu – von Einsicht zu sprechen verbietet sich. Kemmerich sieht sich immer noch als „Anti“-Höcke. Schwer zu fassen. Sein Kompagnon, der irrlichternde CDU-Vorsitzende Mike Mohring, ist anscheinend immer noch davon überzeugt, nichts falsch gemacht zu haben. So jedenfalls lässt sich der geborstene Damm nicht wieder flicken. Beim Umgang mit der AfD ist das Vertrauen der anderen in FDP und CDU erstmal weg. Das bräunliche Gift wird nun stärker denn je in die bürgerlich-liberale Mitte hineinsuppen.
Zumindest in Thüringen könnten die Folgen schon bald an Wahlergebnissen abzulesen sein. Als Ausweg ist dort eigentlich nur eine Neuwahl vorstellbar, auch wenn die Hürden für die Auflösung des Landtags hoch sind. Als Sieger des Urnengangs im Oktober hatte Bodo Ramelow zwar einen Auftrag zur Regierungsbildung, doch ist dieses Ticket seit Mittwoch abgelaufen. Der Souverän in Thüringen hat das Recht, über das Geschehen im Landtag zu urteilen. Vieles spricht dafür, dass die Höcke-AfD profitieren würde. Auch die Linke müsste eine Neuwahl wohl nicht fürchten. Deshalb pauschal von einer weiteren Stärkung der politischen Ränder zu sprechen, wäre falsch. Ramelow in Thüringen ist so wenig ein Linksradikaler wie Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg ein Öko-Fundi.
Der Coup von Erfurt hat auch Auswirkungen auf die bundespolitische Tektonik. Der Tabubruch dort belastet die Koalition in Berlin, die sich gerade wieder gefangen hatte. Abgesehen davon müssen sich die Spitzen von FDP und CDU nach ihrer Rolle in dem Stück fragen lassen. FDP-Chef Christian Lindner sieht sich mit Vorwürfen konfrontiert, er sei in die Erfurter Pläne eingeweiht gewesen und habe diese gebilligt. Dass er sich genötigt sieht, die Vertrauensfrage zu stellen, spricht für sich. Geradezu tragisch erscheint die Rolle der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer. Ihre Forderungen und Bitten, das Spiel nicht mitzuspielen, haben die Thüringer Christdemokraten schlicht ignoriert. Gab es den Versuch einer Intervention? Wurde die Brisanz des Vorgangs in der Parteizentrale nicht erkannt? Wenn es Kramp-Karrenbauer nicht einmal gelingt, einen Landesverband in einer Angelegenheit von strategischer Bedeutung zur Raison zu bringen, wie soll sie dann die Union als Kanzlerkandidatin in die nächste Bundestagswahl führen?

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