TIROLER TAGESZEITUNG “Leitartikel” Samstag, 1. Februar 2020, von Mario Zenhäusern: “Ergebnis einer Entfremdung”
Innsbruck (OTS) – Der Austritt Großbritanniens aus der EU ist für die europäische Einigung ein schmerzhafter Schlag. Aber er ist keine Tragödie – sofern sich beide Seiten auf eine Form der künftigen Zusammenarbeit verständigen können.
Seit Mitternacht ist Großbritannien nicht mehr Teil der Europäischen Union. Die internationalen Reaktionen auf den bereits vor vier Jahren per Referendum beschlossenen Abgang der Briten sind gespalten, wie das Land selbst. Die Brexit-Befürworter jubeln und freuen sich auf die Eigenständigkeit, die Gegner trauern einer vergebenen Chance nach und befürchten chaotische Zustände. Wer letzten Endes Recht behält, wird in erster Linie davon abhängen, wie sich das Verhältnis zwischen dem Königreich und den ehemaligen Partnern auf dem Kontinent entwickelt. Beide Seiten haben jetzt ein Jahr Zeit, sich auf einen Modus Operandi zu einigen, einen Weg der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenarbeit zu finden, der sowohl den Briten als auch den EU-Staaten Luft zum Atmen lässt und niemanden als Verlierer zurücklässt.
Leicht wird das nicht. Britische Regierungschefs (und -chefinnen) haben der Unionsspitze in den vergangenen 47 Jahren zahlreiche Sonderregelungen abgerungen, an denen die Mitgliedsstaaten schwer zu kauen hatten: Der umstrittene Briten-Rabatt beim EU-Beitrag etwa oder die Weigerung, den Euro einzuführen und sich am grenzenlosen Schengen-Raum zu beteiligen, haben viele bedingungslose Europäer vor den Kopf gestoßen. Ob und wie sich das jetzt auf die bevorstehenden Verhandlungen auswirken wird, steht in den Sternen. Klar ist aber, dass die Briten nicht von den Annehmlichkeiten der EU profitieren werden, ohne im Austausch dafür auch Pflichten zu übernehmen. Eine Teilnahme am Binnenmarkt zum Beispiel wird an Bedingungen geknüpft werden. Klar ist aber ebenfalls, dass beide, Europa und Großbritannien, auch in Zukunft miteinander können müssen.
Der Brexit ist für die europäische Einigung ein schmerzhafter Schlag. Und er ist Wind in den Segeln jener Staaten, die der EU kritisch gegenüberstehen, die jede Weiterentwicklung hin zu einer echten Gemeinschaft boykottieren. Aber der Austritt ist keine Tragödie, sondern das Ergebnis einer zunehmenden Entfremdung. Wenn zwei nicht mehr miteinander können oder wollen, ist es oft besser, einen geordneten Schlussstrich zu ziehen. Die dafür notwendige und von allen gewünschte einvernehmliche Trennung ist eine große Herausforderung. Vor allem für die Briten und ihren Premierminister Boris Johnson, der bis dato bekanntlich nicht mit ausufernder Kooperationsbereitschaft glänzte.
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